Heute setzen wir die Entstehungsgeschichte vom Fluchtpunkt Kürten fort, die Birgit Oberkötter niedergeschrieben hat. Wer den ersten Teil noch nicht kennt, kann diesen im Newsletter von Oktober 2024 lesen.
Die Sache mit der Sprache 1. Teil
Englisch sprechende Personen waren heiß begehrt. Der nahende Winter forderte bei den nicht akklimatisierten Menschen sehr schnell seinen Tribut – die Erklärungswelle rollte. Und leider verstanden weder wir deutschen Helfer, noch unsere willigen Kürtener Hausärzte die verschiedensten arabischen, kurdischen oder afrikanischen Dialekte. Die wenigen englisch sprechenden Flüchtlinge hatten alle Hände voll zu tun. In den überfüllten Unterkünften quälte sich in jeder Ecke jemand durch Husten, Fieber und Einsamkeit.
Einfach helfen
Markus Berghaus initiierte im Herbst 2015 die WhatsApp-Gruppe „Einfach Helfen“. Über Aufrufe in den örtlichen Zeitungen verbreitete sich seine Idee rasend schnell. Über WhatsApp wurden Alltagesgegenstände organisiert, Fahrten zum Arzt, Betreuung von Kleinkinder, einfach alles. Manchmal dauerte es nur Minuten, bis ein gebrauchter Gegenstand gefunden wurde und kurze Zeit später dem freudigen Besitzer übergeben werden konnte. Wasserkessel zum Tee kochen, Schuhe in allen Größen, Winterschuhe für Kinder und Erwachsene, eine Wolldecke, ein Kinderwagen, Spielsachen für die Kinder zusätzliche Kühlschränke … alles konnte gebraucht werden in dieser Zeit. Natürlich gab es auch Auswüchse. So fuhr eines Abends ein Kleinbus vor einer Unterkunft vor und verteilte massenhaft Tüten mit Gnocchi unter den ratlosen Bewohnern, die mit diesem Nahrungsmittel überhaupt nichts anfangen wussten.
Erste Begegnungen und Kontakte
In allen Ecken der Gemeinde Kürten fanden in dieser Zeit Begegnungen statt. Privat organisierte Einladungen, um erste Sprachkenntnisse zu vermitteln, ein Kochtreff in Dürscheid, Einladungen zu Konzerten und zur Teilnahme am Sport entstanden. Manches funktioniere, manches musste verworfen werden.
Meine erste hautnahe Begegnung mit geflüchteten Menschen gab es, als Markus Berghaus einen Aufruf startete, dass Basketballkörbe zur sportlichen Betätigung gesucht wurden. Markus kam mit einem Kombi voller dunkelhaariger junger Männer in unser Dorf gerauscht. Es war einfach völlig exotisch, wie sich die fremde Sprache der Männer in unserem heimatlichen, urbergischen Dorf ausbreitete. Heute kenne ich die 4 jungen Männer, die Markus Auto damals ausspuckte sehr gut.
Mohammed arbeitet als Hausmeister im Chempark in Leverkusen. Graith lebt in Bergisch Gladbach und arbeitet in einer Druckerei. Haitham fährt für DHL Pakete aus und Abdulmohin lebt wieder im Libanon.
Zurechtfinden in einer völlig fremden Welt
Stück für Stück versuchen die Geflüchteten sich in unserer Welt zurecht zu finden. Das Sozialamt stellt einen Sozialarbeiter ein, der die Belange der Geflüchteten unterstützt und sie auf den ersten Schritten in der bundesdeutschen Ämterwelt begleitet.
In Bechen habe ich wenig später meine nächste Berührung mit Geflüchteten hautnah. Be Rewe an der Kühltheke sehe ich eine junge Frau mit Kopftuch und einen kräftigen Mann, wie sie versuchen, über eine Handy App die Aufschriften auf einer Margarinedose zu entschlüsseln. Ich überlege, ob ich die beiden ansprechen und meine Hilfe anbieten soll, traue mich dann aber doch nicht. Heute studiert Tala (das Mädchen mit dem Kopftuch) an der Uni in Köln Informatik. Ihr Bruder Nidal arbeitet im Facility Managementbereich im Chempark in Leverkusen.
Die Housing Committees verbinden
Im Dezember 2015, die Häuser sind vollgestopft mit Menschen, das Sozialamt wird jeden Morgen geflutet, die Hilfsbereitschaft der Menschen in Kürten ist überwältigend. In jeder der größeren Unterkünfte, in Schanze, am Halfenberg, in Bilstein, im Hotel Teske und im Gelben Haus haben sich sogenannte „Housing Committees“ gebildet. Das sind Gruppen von Ehrenamtlern, die mehrmals in der Woche die Unterkünfte besuche und sich den Mitarbeitern des Sozialamtes und den Hausmeistern um Tausende von Fragen, Belangen, Sorgen, Nöten und Bedürfnissen der Bewohner kümmern. Die Mitarbeiter in den Haus Committees werden schnell das Bindeglied zwischen den geflüchteten Menschen und den Ämtern.
Familienpaten und Alltagsbegleiter
Für ankommende Familien versucht die Gemeine Kürten schnellstmöglich leerstehende Häuser oder größere Wohnungen anzumieten. Im Kernteam erkennt man, wie sinnvoll es ist, jeder Familie 1 oder 2 Ehrenamtler zur Seite zu stellen, die der Familie das Einleben in Deutschland erleichtern sollen. Willi Meyer Markus Berghaus koordinieren die Bedarfe und suchen neue Ehrenamtler, die diese schwierige und zeitaufwendige Arbeit übernehmen möchten.
Zu diesem Zeitpunkt lädt Markus Berghaus und die ehrenamtlichen Helfer, die sich um ihn scharen, zu einer Nikolausfeier in die Notunterkunft nach Schanze ein.
Ein bisschen aufgeregt und mit sehr gemischten Gefühlen folgen mein Mann und ich der Einladung nach Schanze. Vor der Unterkunft, in aufgestellten Zelten und Pavillons, wimmelt es von Menschen jeder Hautfarbe, Nationalität und Sprache. Die Stimmung ist völlig locker. Es wird gegessen, gesungen, getanzt. Nach diesem Abend ist mir klar, wenn es sich ergibt, werde ich mehr helfen.
Es ergibt sich sehr schnell und keine Woche später bin ich „Patin“ einer kurdischen Familie aus dem Irak.
Von Stunde an sehe ich mein eigentliches zu Hause und meine Familie nur noch selten. Die kurdische Familie hält mich mit ihren Bedürfnissen , mit Arztbesuchen, Einschulung der Kinder und tausend Fragen ganz schön auf Trab. Dazu kommt, das die gesamten 75 Bewohner von Schanze ein schier unstillbares Kommunikations- und Informationsbedürfnis haben. Jeden Abend, an dem sie mich zu fassen kriegen, scharen sie sich um mich (allen anderen Housing Committees Mitgliedern geh es genauso). Mohammed, Mustafa und Hemn stellen mir ihre Fragen in englische Sprache. Ich antworte so gut ich kann und die Antworten werden an die Umstehenden in arabische bzw. kurdische Sprache übersetzt. Oft ist es nach Mitternacht ehe ich mich loseisen kann.
Weiter geht es in der nächsten Ausgabe – Die Sache mit der Sprache – Teil 2